Literarisches

Femizidenz

Eine turbulente Geschichte aus Berlin
mit Familie, Mordfall und Kochrezept

Das Buch liegt fertig in meiner Schublade, aber einen Verlag dafür hab ich noch nicht gefunden. Es könnte am Inhalt liegen. Ich erzähle vom Kampf der Geschlechter, von der heimlichen Herrschaft weiblicher Werte, vom Terror des Gutseins.

Szenarien des Geschehens sind der Mikrokosmos der Familie und die Redaktionsetagen der Kulturfunksender. Hier die Protagonisten:

Rüdiger ist ein Bastler, der dem täglichen Schrecken des Familienlebens in seinen Hobbyraum entflieht. Dort tröstet ihn eine Radiosendung, deren Moderator ihn durch die tiefsten Gründe der Musik führt: „Kopfmusik“. Als eine Moderatorin die Sendung übernimmt, um fortan „Bauchmusik“ zu spielen, südländische Musik, Chansons und Klezmer, kommt es in der Familie des Bastlers zur Katastrophe.

Die neue Moderatorin ist Mira, eine studierte Romanistin, mitgetrieben an der Oberfläche von Political Correctness und Feminismus, die den Platz dieser Sendung vorzeitig übernehmen konnte. Ihr ehemaliger Freund Robert hat nämlich die Rundfunkredakteurin umgebracht, die über die Besetzung der Sendeplätze entscheidet. War dieser Mord nun ein Femizid? Oder vielleicht eine Femizidenz?

Robert wiederum ist eine gescheiterte Existenz, zumal Mira sich von ihm getrennt und einen anderen Partner als Vater ihrer zukünftigen Kinder gewählt hat. Mit diesem neuen Partner wird sie nicht glücklich. Aber darum ging es ihr auch nicht. Hauptsache Kinder!

Hier auszugsweise drei Kapitel aus meiner Erzählung, vielleicht machen sie irgendeinem Verlag Appetit auf mehr. Es treten auf: Rüdiger, Mira und Robert.

 

 

02 Freundschaft


Nie zuvor war solch ein Schiff. Aus Streichhölzern. Da hatte doch einer die gesamte deutsche Kriegsmarine aus Streichhölzern nachgebaut. Eine Flotte von achtundsechzig Schiffen, bis zu zwei Meter lang, keines davon schwimmfähig. Im Wasser würde das Holz aufquellen, der Leim würde sich lösen und das stolze Schlachtschiff „Bismarck“ würde sich wieder in seine 71.250 Streichhölzer zerlegen.

Und Rüdiger fragte sich, wieso diese Schiffe allesamt im Maßstab 1:125 gefertigt waren. 1:100, das wäre irgendwie logisch und nachvollziehbar. 1:72, das wäre überhaupt der beste Maßstab. Aber da hatte sein überhitzter Kopf sich schon wieder abgekühlt.

Diese Aufregung. Der halbwüchsige Rüdi und sein bester Freud Peti. Ihre erste große Reise, den Eltern abgetrotzt, mit der Bahn von Berlin nach Sinsheim. Peter kannte einen Cousin in dieser Stadt, die Rüdiger im Schulatlas erstmal nachschlagen und finden musste.

Diese Aufregung. Sinsheim richtete eine Modellbaumesse aus. Und die beiden Bastler Rüdi und Peti rüttelte ein Interzonenzug über den Transit von West-Berlin dorthin. Am ersten Bahnhof in Westdeutschland tönte der Lautsprecher: „Bebra. Hier Bebra.“ Umsteigen in Frankfurt. Sie waren doch noch gar nicht volljährig. Würde sie jemand am Bahnhof kontrollieren? In welche Tasche steckte man die Fahrkarte, damit sie jaaa nicht verloren ging. Und wie viele Unterhosen müsste man für so eine Reise mitnehmen?

Diese Aufregung. Und die Eintrittskarten, die Eintrittskarten. Noch buchte man die nicht Internet. Wären die Karten vor den Messehallen womöglich ausverkauft? Nebeneinander saßen die Pubertierenden in ihrem Bahnabteil und schworen sich, keiner dieser westdeutschen Blondinen in den Gängen mehr hinterherzugucken, bis sie diese Eintrittskarten endlich in der Hand hielten.

Als sie die Eintrittskarten tatsächlich in der Hand hielten, waren keine Blondinen mehr da, denen sie hinterhergucken konnten. Durch die Messehallen schoben sich nur Männer, so ziemlich alle in karierten Hemden, in grauen Blousons, mit Schnauzbart und Stahlrandbrille. An den Ständen wusste jeder von ihnen alles besser und dozierte über Maßstäbe, über Farbtöne, über technische Daten, über historische Ereignisse.

Aber diese Modelle. „Peti, Peti, hast du das gesehen?“ „Rüdi, Rüdi, schau dir das mal an!“ Fußballstadien in einer Modelleisenbahnlandschaft, gefüllt mit - Rüdiger zählte sie nach - 6000 handbemalten Figuren im Maßstab 1:87. Panzermodelle, platziert in Dioramen, in nachgestellten Gefechtsfeldern auf schreibtischgroßen Flächen, im Maßstab 1:72. Und dann diese Flotte der Kriegsmarine aus Streichhölzern. Warum nur im Maßstab 1:125?

Irgendwann saßen Rüdi und Peti erschöpft auf irgendwelchen Stufen, Männer in grauen Blousons schoben sich an ihnen vorbei. Peti hatte seine Plastiktüte prall mit Prospekten gefüllt. Sie riss ein, und beide mühten sich, die gewichtige Fracht neu zu schichten. Rüdi quälte brennender Durst, das Taschengeld ging zur Neige, aber hier auf der Messe kostete das billigste Getränk drei Mark. Ja, Mark. Und aus den Wasserhähnen der Toiletten floss es lauwarm. Obendrein öffneten die Hähne sich nur durch Bewegungssensoren, so dass sich daraus nicht menschenwürdig trinken ließ.

Der Durst machte ihre Erschöpfung unerträglich. Rüdi und Peti redeten kein Wort mehr miteinander, als sie in einem Linienbus saßen, der die zu Peters Cousin brachte. Gelegentlich streiften sich ihre Blicke, und mit ihnen drückten sie sich gegenseitig Leid und Kraftlosigkeit aus.

Streiten würden die beiden sich erst am nächsten Tag auf der Rückreise, als es um die Frage ging, ob sie über die vordere oder die hintere Tür in den Wagon steigen. Und als sie am Bahnhof Zoo in Berlin ihren Wagon endlich wieder verließen, konnten sie sich nicht mehr riechen. Erschöpft und überreizt blieben sie wortlos. Jeder von ihnen verschwand in seiner U-Bahn, die ihn zu den Eltern führte. Und doch goss diese Reise die Freundschaft zwischen Rüdi und Peti für alle Zukunft in Beton.

Die Zukunft. An den Abenden der Basteleien, nachdem sie das Zimmerfenster aufgerissen und die Klebstoffgerüche hatten hinausdünsten lassen, sprachen sie auch über ihre Zukunft. Sie fragten sich, ob dieser Mann, der die Bismarck aus Streichhölzern gebaut hatte, auch einen Schnauzbart und eine Stahlrandbrille tragen würde. Und sie fragten sich, ob ihnen selbst dieses Schicksal gleichfalls widerführe.

Peti hatte sich schon mal ein Blouson zugelegt. Tatsächlich grau, was ihn unter seinen Klassenkameraden ziemlich altklug aussehen ließ. Vor allem aber hatte dieses Blouson viele Taschen. Peter wollte später mal zur Polizei gehen, zur Kriminalpolizei, und da brauchte man viele Taschen, für die Waffen und den Notizblock. Und überhaupt seien Zivilpolizisten immer unauffällig gekleidet, eigentlich genau so wie Modellbauer. Unauffällig, sagte Peter, unauffällig käme man einfach am besten durchs Leben.

Und Rüdi überlegte, wie er durchs Leben käme, ob er eines Tages Frau und Kinder haben würde. Und ob man sich den Mann, der die Kriegsmarine aus Streichhölzern nachgebaut hatte, mit Frau und Kindern vorstellen dürfe.


 Lesenswert dazu

John Griesemer: Rausch. Marebuchverlag, Hamburg 2003

S.13: "Nie zuvor war solch ein Schiff."


 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos, in: Das Frühwerk, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 1967

S.519: "Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen."

 

 

 

03 Reitschule

 

Kinder können grausam sein. Jugendliche auch.

Als die Türen ihres Wagons am S-Bahnhof Frohnau sich schlossen, hatte Mira einen Spießrutenlauf hinter sich gebracht. Und das in ihren längst zu engen Reitstiefeln. Miras Füße wurden immer größer. Sie hatte jetzt schon Schuhgröße 41, und die Stiefel drückten.

Diese blöden Jungs. Diese scheiß-blöden Jungs. Diese scheiß-scheiß-blöden Jungs. Von der Reitschule bis zum S-Bahnhof waren sie hinter ihr hergelaufen, mit ihren Mofa-Helmen unterm Arm, hatten sich über Mira lustig gemacht, über ihre Pferde, über ihre Reitstiefel. Und über ihre Reitweste, diese schicke gesteppte Reitweste von Eskadron, die sie sich zum fünfzehnten Geburtstag gewünscht hatte.

Die Witze dieser Jungs waren unterirdisch. Immer irgendwas mit Hengsten und Stuten. Mira wollte sich nicht mehr daran erinnern und blickte suchend aus dem Fenster des Wagons. Fand sich da draußen vielleicht Ablenkung? Die Scheibe beschlug unter ihren Tränen.

Es waren Christian und Lars, die sie so grottig verfolgt hatten. Christian und Lars, das waren mal ihre besten Freunde. Vor fünf Jahren noch räuberten sie gemeinsam durch die Straßen. Mira, der Räuberhauptmann, immer mit den besten Einfällen, immer mit den mutigsten Aktionen. Sie war das Mädchen, ihr wurde am ehesten verziehen. Aber Mädchen wollte sie doch gar nicht sein. Jahrelang trug sie kurze Haare und ließ sich auf der Straße als „Mike“ ansprechen.

Jetzt war alles anders. Miras Füße wuchsen, Miras Brüste auch, und Christian und Lars waren längst nur noch mit Jungs unterwegs. Bis sie wohl ziemlich zufällig in diesem Frohnau auf ihren Mofas an ihr vorbeiknatterten, abstiegen, ihr nachstellten und ihre furchtbaren Zoten rissen.

Das war noch nicht alles an diesem grausamen Tag. Diese dumme Zicke Silvia hatte heute den schnittigen Westfalen „Blitz“ reiten dürfen. Für Mira blieb bloß noch die alte Haflingerstute „Herta“. Silvia, bis zu diesem Tag war sie Miras beste Freundin. Immer sangen beide in der S-Bahn die Lieder von „Take That“.

Aber dem Reitlehrer hatte Silvia wohl die schöneren Augen gemacht. Was der an dieser Silvia nur fand? An der war doch nichts dran, an dieser Silvia, an dieser blöden Kuh! Vielleicht waren es die blonden Zöpfe, die Silvia sich geflochten hatte. Extra für den Reitlehrer.

Er war aber auch wirklich süß, der Reitlehrer. Ein Franzose, als Sohn eines französischen Offiziers nach Berlin gekommen. Damals noch Westberlin, und deshalb hatte es ihn auch in den Norden von Berlin verschlagen, nach Frohnau, in die ehemalige französische Besatzungszone. Ihm zuliebe merkte Mira sich das mit den Besatzungszonen, sie hatte es ja sonst nicht so mit den Himmelsrichtungen.

Jaques war dunkelhaarig, dunkeläugig, und die Pferde führte er mit so schönen Händen. Als Mira ihrem Vater von Jaques erzählte, sie nannte eigentlich nur mal seinen Namen, weil Papa ja die Reitschule bezahlte, da machte der sich darüber lustig. Die Franzosen, lachte er, deren Sprache sei doch nur ein Provisorium. Mira sollte sich mal diesen Namen angucken. Der Franzose braucht vier Buchstaben, um einen „o“-Laut auszudrücken. Für manch einen Laut braucht der Franzose sogar fünf, und wenn die nicht reichen, hängt er noch ein „x“ hinten ran.

Für den melodischen Klang dieser Sprache hatte Papa überhaupt kein Ohr. Er fing immer nur an zu rechnen. Und er versaute alles mit blöden Witzen.

Jetzt bloß nicht weiter heulen! Das würde Papa sehen, dann würde er fragen, was denn diesmal los war. Immer fragte er, was denn diesmal los war. Immer fragte er so bescheuert.

Es war ja auch immer was los. Aber Papa würde sie nicht verstehen und womöglich kluge Ratschläge erteilen. Niemand verstand sie. Niemand!

Dabei könnte es doch so einfach sein, wenn die Menschen nur gut zueinander wären und sich lieben würden. Papa hatte ihr mal von ihrer frühesten Kindheit erzählt. Da spielte sie mit den Gummipferdchen von Schleich, ließ sie ausreiten und versammelte sie dann wieder in einer Koppel aus Streichhölzern, die er ihr gebastelt hatte. Dort hätte sie die Pferdchen zueinander gestellt, wohlsortiert, immer in Pärchen, eines zum anderen. „Johnny zu Daisy, Billy zu Jeany“, hätte Mira dabei gesungen, „und alle, alle haben sich lieb!“

Die Liebe, dachte Mira. Das Gutsein. Langsam musste sie kein Schluchzen mehr unterdrücken. Die Scheibe des Wagons klarte auf, deutlich zeichneten sich die unverputzten Backsteine in den Hinterhöfen des Wedding ab. In der Oberstufe würde Mira Französisch lernen, das dürfte Jaques beeindrucken. Das dürfte ihn ganz sicher mehr beeindrucken als der blöden Silvia ihre blonden Zöpfe.


 

Lesenswert dazu:

Aldous Huxley: Zeit muss enden. R. Piper & Co. Verlag, München 1961

S.343: "Ein unbedingtes, unverfälschtes Gutsein, aber beschränkt durch eine undurchdringliche Unkenntnis von Ziel und Zweck des Daseins."


 


 


 13 Freilaufende Zwei


Die „Freilaufende Zwei“. Seit dem Gespräch mit der dicken Maria im Partykeller des Reitschülers sollte Robert dieses Problem nicht mehr vergessen. Das Gespräch musste er abbrechen, als Mira ihn zum Tanz aufforderte. Das Problem verließ ihn nie.

In seinem Studium schlug er es für eine Seminar-Arbeit vor. Es wurde abgelehnt. „Was im Laufe eines Studiums abzuliefern ist, das sind Gesellenstücke“, erklärte ihm ein Professor, „was Sie mit diesem Thema vorhaben, ist ein Meisterstück, an dem sich schon andere die Zähne ausgebissen haben. Wollen Sie mit einer Seminararbeit alle Welträtsel lösen?“

Robert machte sich dran. Es schien doch so einfach, denn dahinter steckte nichts anderes als die Frage nach der freilaufenden Zwei: Gab es Zahlen wirklich? Waren Zahlen Wirklichkeit? Oder waren Zahlen nur eine Konstruktion, ein Produkt menschlicher Phantasie, eine Verständnishilfe? Und wenn sie nur eine Verständnishilfe sein wollten, halfen sie denn tatsächlich zum Verständnis? Ließ sich die Wirklichkeit mit ihnen hinreichend begreifen? Und je nachdem, wie die Antwort auf diese Frage ausfiel: Was bedeutete das für die Menschheit?

Nach dem Bruch mit Mira beugte Robert sich mal wieder über das abgegriffene Manuskript. Das späte Essen im „One Planet“ lag ihm schwer im Magen, und so krümmte er sich noch viel mehr darüber, nachdem er die Seiten auf dem kleinen Schreibtisch in seinem Zimmer vor sich ausgebreitet hatte:


 

Gibt es Zahlen wirklich? Sind Zahlen Wirklichkeit? Oder sind Zahlen nur eine Konstruktion, ein Produkt menschlicher Phantasie, eine Verständnishilfe? Und wenn sie nur eine Verständnishilfe sein wollen, helfen sie denn tatsächlich zum Verständnis? Lässt sich die Wirklichkeit mit ihnen hinreichend begreifen? Und je nachdem, wie die Antwort auf diese Frage ausfällt: Was bedeutet das für die Menschheit?

Die Gewissheit ist trügerisch. Fragen Sie Ihre Nachbarin nach einer Wissenschaft, die ihr Gewissheit gibt, Geben Sie ihr zwei zur Auswahl, die Philosophie und die Mathematik. Die Philosophie, wird sie sagen, ist was für Spinner. Sie wird die Mathematik nennen und aus ihrem Einkaufsbeutel zwei Äpfel greifen. Hier, wird sie sagen, so gewiss, wie dieses Äpfel sind, die ich sehen, fühlen und schließlich sogar essen kann, so gewiss sind es deren zwei. Und dann wird sie den Beutel ablegen und zwei weitere Äpfel herausgreifen und sagen, hier sind zwei weitere Äpfel, und noch gewisser als die Möglichkeit sie alle in einer Hand zu halten ist die Wirklichkeit, dass es nun ihrer vier Äpfel sind. Zwei Äpfel und zwei Äpfel sind vier Äpfel. Zwei und zwei ist vier. Handfester lässt Gewissheit sich nicht erlangen. Das ist Wahrheit, ja, Wirklichkeit ist es sowieso. Und wenn man das aussprechen will, dann kann man das nicht mit der Philosophie, sondern nur mit der Mathematik, nämlich mit ihren Zahlen.

Das aber war´s auch schon. Diese Gewissheit hilft der Nachbarin beim Einkaufen. Aber wenn Ihre Nachbarin drei Kinder hat, schlagen Sie ihr mal vor, einen Apfel in drei Teile zu schneiden. Und wer Kinder hat, mehrere davon, der weiß, wie zänkisch Geschwister sind, wie schnell sie sich übervorteilt fürchten und welch kleinlichen Wert sie auf Genauigkeit im Teilen legen.

Es wird Ihrer Nachbarin vielleicht gelingen, den Apfel in drei exakt drei gleiche Teile zu schneiden, theoretisch scheint das zumindest möglich. Sie wird von jedem Teil auch noch verbindlich sagen können, dass es sich um jeweils ein Drittel handelt. Das ist sogar in einer Zahl auszudrücken, wenn auch nicht in einer sogenannten natürlichen, sondern in einem Bruch: 1/3. In einer so genannten natürlichen Zahl aber können sie diesen Bruch nicht darstellen, er findet nämlich kein Ende: 0,3333... Gelegentlich behilft man sich dann mit einem über die Dreien gezogenen Strich, aber das Reich der natürlichen Zahlen haben damit nun schon verlassen, treten über in die Reiche der rationalen, rellen und komplexen Zahlen, oder wie auch immer sie die verschiedenen Schulen der Mathematik benennen.

Wir landen schnell bei Zahlen wie der Wurzel aus Zwei oder der Zahl Pi, die Ihre Nachbarin auf dem Papier nicht mehr wird niederschreiben können, auf einem Einkaufszettel schon gar nicht. Die Wurzel aus Zwei wird sie für ihre Einkäufe vielleicht sowieso nie benötigen. Die Zahl Pi könnte sie eher mal brauchen, vielleicht sogar, wenn sie den Umfang oder das Volumen eines Apfels berechnen will, um Streit unter den Geschwistern zu schlichten. Sie wird feststellen, dass es nicht nur unmöglich ist, die Zahl Pi niederzuschreiben, es ist sogar unmöglich, mit ihr den exakten Umfang des Apfels zu berechnen, weil der ja nicht die Form eines geometrisch idealtypischen Kreises oder einer Kugel hat. Und so, wie Kugeln und Kreise in der Natur also in der Wirklichkeit nicht vorkommen, so kommen in ihr keine Zahlen vor. Oder hat Ihre Nachbarin Ihnen jemals von einer freilaufenden Zwei berichtet?

Wenn wir es genau nehmen, und wir nehmen es so genau wie die Geschwisterkinder Ihrer Nachbarin, stellen wir also fest, dass die Mathematik mit ihren Zahlen eben nicht in der Lage ist, uns verbindliche Gewissheit und verbindliche Auskünfte über die Wirklichkeit zu geben. Die Zahlen sind ein willkürliches, unserem Geiste entsprungenes Hilfsmittel, um einiges aus der Wirklichkeit zu benennen und uns mit anderen Menschen darüber zu einigen. So wie die Sprache, mit der wir ein Lebewesen „Pferd“ oder auch „Horse“ nennen können, aber ziemlich schnell feststellen, dass es zwar einzelne Lebewesen gibt, die wir alle ohne Widerspruch „Pferd“ nennen dürfen, dass es aber „das“ Pferd nirgendwo gibt, außer in unserer Phantasie.

Selbst als Hilfsmittel sind die Zahlen eben nur eine Hilfe, und zwar eine ziemlich erbärmliche. Ihre Grenzen finden sie in Zahlen wie Pi oder der Wurzel aus Zwei, die tatsächlich nicht mal als Zahlen darstellbar sind.

Mit der Gewissheit ist es aus. Die Wirklichkeit ist immer anders. Es war nur die Magie, die den Zahlen eine Eigenständigkeit andichtete.

Heute stellen wir fest, dass wir in zwei Reichen leben. Das eine Reich ist unser Reich der Begriffe und der Zahlen, die ja nicht mal sich selbst unmissverständlich abbilden können. Das andere Reich ist die Wirklichkeit da draußen, die sich tatsächlich nie mit dem deckt, was wir mit Zahlen und Rastern an sie legen.

Wenn wir nun so nackt und ohne jede Gewissheit in der Welt stehen, dürfen wir dann überhaupt noch über irgendwas in ihr urteilen? Wir dürfen Äpfel einkaufen, ja, wir dürfen an der Obsttheke sogar zwei von ihnen verlangen. Verbindliche Aussagen über ihre Maße und ihr Gewicht oder womöglich über ein Drittel davon dürfen wir aber nicht treffen. Und schon gar nicht dürfen wir über sie aussagen, ob sie süß oder bitter, schön oder hässlich, gut oder schlecht sind. Denn das ist Geschmackssache. Oder eine Sache des Gefühls. Und beides ist nicht messbar. Urteile des Geschmacks oder des Gefühls, also Urteile der Ästhetik oder der Moral, sind im Gegensatz zum Maß oder Gewicht eines Apfels ohne jeden verbindlichen Maßstab. Ästhetik und Moral, die vielleicht wichtigsten Disziplinen mit denen sich das Mensch-Sein auszeichnet, sind schlichtweg nicht messbar, erst recht, wenn Zahlen sowieso keinen Wert haben, der zu unserer Erkenntnis beiträgt.

Und damit kommen wir zur Tragweite unseres Problems: Als aufgeklärte Menschen haben wir nur ein Ungefähr, das uns auf unbestimmte Weise vermittelt, dass wir den Menschen uns gegenüber in den meisten Fällen nicht töten dürfen. Einen Maßstab, also ein messbares Regulativ im wörtlichen Sinne, dafür aber haben wir weder in uns noch in der Wirklichkeit da draußen.

Oder haben wir ihn doch? Es ist, als sende uns eine da draußen bestehende Wahrheit gelegentlich Grüße zu, mal mehr, mal weniger verschlüsselt. Sie sind ausgerechnet geometrischer Natur, und das vielleicht nicht zufällig. Schließlich ist eine Drittelung einer einzelnen Einheit geometrisch möglich, seien es Strecken, Kreise, nicht aber Winkel, was merkwürdig genug ist. Das Drittel als Zahl aber stellt uns vor Probleme, weil die Zahl eben nicht in der Lage ist, eine Wahrheit zum Ausdruck zu bringen.

Gleiches gilt für den Kreis, dessen Umfang in der Zahl Pi immer nur unfertig zum Ausdruck gebracht werden kann. Geometrisch dagegen ist er im wörtlichen Sinne ersichtlich.

Und kommen wir schließlich zum Goldenen Schnitt, zum Prinzip der wohlgestalteten Proportion. Hier gilt zunächst die eben formulierte Einschränkung, dass es keinen Maßstab für ein ästhetisches Urteil gibt. Und doch können wir uns auf eine erstaunliche, wenn nicht erschreckende Konvention berufen, die sich schlichtweg in der Mehrheit der Urteilenden begründet. So ziemlich alle sind wir uns über die gelungene Proportion des Formats einer Scheckkarte oder eines 16:9-Bildschirms einig. Und doch wissen die wenigsten von uns, dass die Seitenlängen dieser Rechtecke sich in der Zahl Phi begründen. Wenn wir die kurze Seite des Rechtecks mit der Zahl Eins benennen, so stellen wir fest, dass sich mit der langen Seite die Zahl Phi zum Ausdruck bringt: 1,6180339887..., eine Zahl, in der sich, wie bei der Wurzel aus Zwei oder der Zahl Pi, niemals eine Folge wiederholt, eine Zahl auch, die niemals endet. Nur annäherungsweise lässt sie sich, wie das Drittel, in einem Bruch wiedergeben, dem die so genannte Fibonacci-Folge zugrundeliegt, eine Zahlenfolge, die mit den Werten 1 und 1 beginnt, und in der jede nächste Zahl die Summe der beiden vorhergehenden Zahlen ist: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 … Und so liegt das Ergebnis von 21/13 mit 1,615348... schon ziemlich dicht an der Zahl Phi. Doch auch der Bruch wird mit zunehmender Genauigkeit nur unendlich. Mit Zirkel und Lineal dagegen ist der Goldene Schnitt ziemlich leicht und eindeutig zu vollziehen. Und das Erstaunliche, wenn nicht Erschreckende: Wir alle sind uns dann über die Wohlgefälligkeit dieser Proportion einig.

Ist der Goldene Schnitt mithin das Maß für eine allgemeingültige Ästhetik? Wir hatten doch eben noch behauptet, es gäbe keines. Und wenn es ein Maß für eine allgemeingültige Ästhetik gibt, das natürlich nicht in Zahlen ausgedrückt werden kann, gibt es dann auch ein Maß für die Moral? Wüssten wir, wenn wir dieses Maß fänden, genau, wann wir einen Menschen töten dürfen und wann nicht?

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“, behauptet der Prophet Micha, „und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6,8) Gottes Wort aber füllt eine ganze Bibel. Nur Rabbi Hillel behauptete später, die vollständige Wahrheit der Tora ließe sich aussprechen, während man auf einem Bein stünde. Nach Hillel gleicht sie einer einfachen Volksweisheit und lautet: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“

Ist es so einfach? Hätten wir mit dieser Weisheit Hitler oder Stalin oder auch nur den Wächter eines KZs wirklich töten dürfen? Tatsächlich müssten wir die Auskunft Hillels mit Hinzufügungen und Ausnahmen umranken, bis wir vor einer nicht endenden Auskunft stünden, ähnlich der Zahl Phi - und damit noch länger als Gottes Wort in der Bibel oder der Tora.

Könnten wir die Auskunft auf andere Weise ausdrücken? Geometrisch vielleicht, wie den Goldenen Schnitt? Dann müssten wir wohl ewig einen Zettel mit uns führen, der uns diese Wahrheit auf ausgedruckte Weise in Erinnerung bringt.

Oder müssten wir uns tatsächlich auf die Stimme unseres Herzens herablassen, auf ein Gefühl? Unsere Nachbarin, die mit den zwei Äpfeln und ihrer Gewissheit darüber, sie würde die Antwort auf diese Frage umgehend bejahen. Ein Pilot eines bewaffneten Düsenjägers hinter einem entführten Passagierflugzeug, das seine Geiselnehmer gerade in das Herz einer Großstadt steuern, könnte es nicht. Er müsste schon wieder anfangen zu rechnen. Mit Zahlen.


 

Das also waren die Probleme, mit denen Robert sich beschäftigte. Wie ein Schüler, der von seinem Lehrer geliebt werden will, legte er das Papier trotz Ablehnung seinem Professor vor. Der quittierte es eiskalt: „Seit dem Universalienstreit der mittelalterlichen Scholastik ist das eine olle Kamelle. Und Sie glauben nicht etwa noch an das Hexen-Einmaleins?“ Robert, das Sensibelchen, konnte sein Erschrecken offensichtlich nicht verbergen, irgendwas musste sich in seiner Gesichtsfarbe verändert haben. Und so suchte der Professor auch noch ein paar warme Worte: „Schön geschrieben, flott geradezu. Das aber ist nicht die Sprache der philosophischen Wissenschaft. Wollen Sie es damit nicht lieber mal im Journalismus probieren?“

Im Journalismus, dachte Robert jetzt, dort wo es nicht um die Inhalte geht, sondern um ihren Marktwert. Dort, wo Texte neuerdings mit Gender-Sternchen geschrieben werden müssen, und wo der Pilot hätte Pilot*in (m/w/d) sein müssen. Und wie hätte denn nun ein oder eine Pilot*in gehandelt? Hätte sie die Stimme ihres Herzens befragt?

Wenn es Wahrheiten wirklich gab, so mindestens deren zwei: Eine männliche und eine weibliche.

Robert dachte nun noch darüber nach, diesen Text vielleicht der dicken Maria vorzulegen. In Fortsetzung des abgebrochenen Gespräches im Party-Keller dieses Reitschülers, als Roberts Beziehung zu Mira begann.

Ob die Adresse der dicken Maria sich noch auftun ließ? Und ob sie wirklich eine Mathematikerin geworden war? Sie war nun wohl eher eine Hausfrau, auch dicke Töpfchen finden ihre Deckelchen, und die setzen durchaus ungeheure mathematische Fähigkeiten frei, zumindest, wenn es um die Führung ihres Haushaltes geht.

Jetzt brodelten auch noch Blähungen. Alles wegen dieses Wartens und dieses späten Essens im „One Planet“. Robert beugte und krümmte sich vor seinem Papier wie ein Jude vor dem Studium der Tora. Es war ein einsamer Gottesdienst, den er am kleinen Schreibtisch seiner Neuköllner Hinterhofwohnung zelebrierte. „Einsamer Gottesdienst“ - ein Begriff in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ im Kapitel über das Gewissen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Der war auch mal wieder an der Reihe, wenn Robert nach dem Sortieren der Einkaufszettel der letzten Woche fertig war. Schließlich hatte Hegel in seiner „Logik“ das Maß über die Quantität erhoben. So!


Lesenswert dazu

Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I, in: Nietzsche´s Werke, erste Abteilung, Band II, Verlag C.G. Naumann, Leipzig, 1900

S.36 §19: "Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein „Ding“)."


Stanislaw Lem: Die Irrungen des Dr. Stefan T., Zweiter Teil: Unter Toten, Verlag Volk und Welt, Berlin 1959

S.210: "Manchmal legte er sich Eierschalen auf dem Fußboden zurecht und überlegte: Das hier sind fünf Eier, aber sie liegen doch einzeln da – einfach hier eins, da eins und nochmal eins, und zusammen sind es fünf. Wo ist denn dieses „fünf“? Jedes Ei ist doch für sich – wo ist „fünf“?"

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